"Jury Duty": Wir leben in einer Simulation. Tun wir doch, oder? (2024)

Eine Kolumne von Matthias Kalle

In "Jury Duty" führt ein Geschworenenensemble der Eingeweihten das einzige ahnungslose Mitglied der Gruppe an der Nase herum. Was für ein Horror, was für ein Spaß.

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Manche Menschen gucken Fernsehen, weil dort die Bundesliga läuft, weil man Heizdecken bestellen und sich nachts mit Hitler-Dokus die Träume verderben kann. Nicht Matthias Kalle. Unser Kolumnist guckt Fernsehen, weil er die Welt verstehen will – und verrät in seiner Kolumne "Kalle guckt", was man wirklich gesehen haben muss, um allen Lebenslagen gewachsen zu sein. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 19/2023.

Es gibt so Tage, da denke ich schon morgens, wenn ich dasHaus verlasse, dass ich verarscht werde. Teenager fahren zu dritt auf einemE-Scooter an mir vorbei, Brötchen kosten 40 Cent, Männer tragen Klamotten derMarke Camp David, die Bahn ist pünktlich – das soll tatsächlich die Realitätsein, in der ich lebe?

Seit ich Anfang der Achtzigerjahre das erste Mal VerstehenSie Spaß? gesehen habe, damals noch mit Paola und Kurt Felix, bin ichdarauf vorbereitet, dass jederzeit ein sogenannter Lockvogel aus dem Gebüschspringen könnte, um mir lächelnd zu erklären, dass man sich gerade einen "kleinenSpaß" mit mir erlaubt habe, ich solle da mal hinschauen, da sei eineKamera und da vorne auch, gnhihi. Ich glaube, ich bin auch deshalb Journalistgeworden, um das Handwerkszeug dafür zu haben, die Wirklichkeit überprüfen zukönnen, zwei Quellen, Neugier, ständige Skepsis, solche Sachen. Aber meineSorge, hinters Licht geführt zu werden, ist in den vergangenen Jahren ehergrößer als kleiner geworden. Das liegt zum Teil an den Möglichkeiten der KI, anTwitter, an Instagram, an Deepfakes – ach, eigentlich fühle ich mich permanentbedroht von möglichen Lügen.

Keine Ahnung, ob es Ronald Gladden so ähnlich ging, bevorer als Geschworener einer Jury ausgewählt und dadurch, ohne es zu wissen, Star der Serie Jury Duty (zu sehen beim kostenlosen Prime-Video-AblegerFreevee) wurde. Denn Gladdens Vorladung zur Geschworenenpflicht, die anderenJury-Mitglieder, der Richter, die Staatsanwältin, der Verteidiger, derAngeklagte, die Klägerin – all das ist nicht echt, sondern eine Idee von LeeEisenberg und Gene Stupnitsky, die ihr fabelhaftes Handwerk gemeinsam bei derSerie The Office gelernt haben. Mit Jury Duty haben sie eine Arthalb improvisierte Comedyserie im Dokustil erschaffen, in der alle Beteiligtenwissen, dass es eine halbimprovisierte Comedyserie im Dokustil ist. Außer ebenRonald Gladden.

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Das Ergebnis ist verblüffende, amüsante, durchgedrehteund somit beste Fernsehunterhaltung. Wir Zuschauer wissen von Anfang an, welchfalsches Spiel mit Gladden gespielt wird, aber wir können nicht im Ansatzahnen, welche Regeln sich die Verantwortlichen für dieses Spiel ausgedachthaben. Die Mitspieler sind unbekannte Schauspieler, geschult in der Technik desImprovisierens, nur einen kennt man, James Marsden, der eine leicht unangenehmeParodie auf sich selbst spielt: einen Schauspieler, den man von irgendwoherkennt und der immer noch auf diese eine Rolle wartet, die ihn endlich in dieA-Liga katapultieren könnte. Marsden zeigt sich auch hier als Ensembleschauspieler,der den anderen nicht die Show stiehlt. Und die liefern sie auch wirklich ab,allen voran David Brown als Todd, ein kleiner, blasser Kerl, der von denMöglichkeiten der Kybernetik fasziniert ist und einmal mit an den Hinterngeschnallten Krücken ins Gericht kommt, weil er meint, die Sitzhose erfunden zuhaben.

Auch der Rest des Ensembles besteht ausVerhaltensauffälligen: Barbara (Susan Berger) nickt während der Verhandlungständig ein; Jeannie (Edy Modica) würde gern jemanden aus der Jury verführen;Ken (Ron Song), der bei einem völlig sinnlosen Spiel gegen Ronald verliert unddaraufhin meint, er würde ihm jetzt 2.000 US-Dollar schulden, so seien halt dieRegeln; Noah (Mekki Leeper), der zu Beginn nach Gründen sucht, um von seinemGeschworenendienst entlassen zu werden, damit er endlich zum ersten Mal mitseiner Freundin schlafen kann. Dazu kommen ein unbeholfener Anwalt, einehochnäsige Klägerin und eine einfältige Zeugin.

Die Macher von Jury Duty haben ein perfektesGrundgerüst für die Show geliefert (Gladden wurde natürlich gesagt, man dreheeine Dokumentation über eine Geschworenenjury). Was man planen konnte, habensie bis ins Detail geplant, der Rest sind Magie und Schauspieltalent und einnicht eingeweihter Jedermann, der über die scheinbar Verrückten staunt undallen Widrigkeiten zum Trotz versucht, seiner Aufgabe als Geschworener gerechtzu werden. Gladden zeigt Verständnis und Empathie. Am Ende ist es ihm zuverdanken, dass der vermeintliche Angeklagte freigesprochen wird.

Zum Schluss der vorletzten Folge wird der Schabernackaufgeklärt und dem fassungslosen Gladden werden 100.000 Dollar versprochen. Dieletzte Episode ist dann eine Art Making-of, das zeigt, wie viel Akribie esbrauchte, um diese erstaunliche Fernsehserie zu produzieren. Es ist ein beinaherührender Abschluss, alle Beteiligten liegen sich in den Armen, erleichtertdarüber, dass die epische Veräppelung funktioniert hat.

Ob ich nach Jury Duty erleichtert war? Einerseitsja, denn die Show ist das reine Vergnügen. Andererseits schreibe ich diesenText gerade in der Sorge, dass gleich die Tür aufgeht und mein Redakteur miteinem Kameramann hereinplatzt, um mir zu erklären, dass es ZEIT ONLINE überhauptnicht gibt und man sich halt einen kleinen Spaß mit mir erlaubt habe. Morgenmüsse ich mir leider einen richtigen Job suchen.

Die acht Folgen von "Jury Duty" sind beiFreevee verfügbar.

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Author: Greg Kuvalis

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